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Nichts ist selbstverständlich, wie wir gerade eindrücklich erleben: Wir müssen uns einschränken, auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten – wir müssen uns in Bescheidenheit üben.
In diesen Tagen muss ich oft an meinen Vater denken, der für mich die Personifizierung des Wortes Bescheidenheit war. Ich kann noch immer von ihm lernen – gerade heute.
Sonntagabend in den 40ern: Ein Junger Mann schwingt sich aufs Rad, um die 60 Kilometer bis zu seinem Lehrbetrieb in einem anderen Kanton zurückzulegen. Auch wenn es bergauf und bergab geht, ist diese Fahrt für ihn ein Privileg. Im Gegensatz zu seinen Brüdern, die auf dem elterlichen Bauernhof arbeiten, kann er seine handwerkliche Begabung ausleben und eine Ausbildung absolvieren.
Für ihn war das genug, er war zufrieden. Er hatte wohl seinen Platz gefunden.
In dieser Zeit hiess das, morgens um 6 Uhr die Werkstatt betreten, alles für den langen Arbeitstag vorbereiten – und im Winter vor allem heizen.
Für den Lehrbuben ebenso selbstverständlich war das abendliche Aufräumen, das nach 10 bis 12 Stunden den Feierabend einläutete. Auch wenn an den Samstagen etwas zeitiger Schluss war, stand nun die Rückfahrt zum heimischen Bauernhof an. Natürlich auf dem Fahrrad, das rund 25 Kilo auf die Waage brachte und neben dem Vorwärtsgang gerade einmal einen Rücktritt bot. Zu Hause ging es weiter, die Familie musste auf dem Bauernhof unterstützt werden – bis am Sonntagabend alles von vorne beginnen konnte.
Nun werden Sie vielleicht sagen: Ja, das war halt damals so, die Welt hat sich verändert. Ja, und nein. Ich habe meinen Vater, der heute 95 Jahre alt wäre, aber leider vor 15 Jahren verstorben ist, als sehr feinfühligen, leisen und ausgeglichenen Menschen in Erinnerung, der die vielen Rückschläge und tragischen Momente in seinem Leben mit Fassung getragen hat. Er hat seine drei Söhne in einer Art und Weise erzogen, dass sie ihren Weg selbstbewusst gehen können. Was hat ihm diese Kraft gegeben? Was hat ihn glücklich gemacht?
Ich wollte also nachspüren, was mein Vater empfand, was ihn antrieb und zufrieden machte.
Wie es der Zufall wollte, zog ich in die Gegend, in der sich noch heute der einstige Lehrbetrieb meines Vaters befindet. Ich nahm mein modernes, leichtes 28-Gang-Rad und machte mich auf den Weg, den er zweimal pro Woche zurücklegte. Was soll ich sagen? Es war mordsmässig anstrengend, heftige Anstiege und anstrengende Abfahrten wechseln sich in schöner Regelmässigkeit ab. Das war auch mit meinem Equipment eine echte Herausforderung. Meine Ehrfurcht wuchs – nicht nur vor dieser körperlichen Leistung, sondern vor allem vor seiner Bescheidenheit.
Nun könnte man sagen: Mein Vater hätte mit Sicherheit sehr viel mehr aus seinem Leben machen können. Aber, er hat sich dagegen entschieden. Ganz bewusst. Er war glücklich mit dem, was er hatte und was er war. Vielleicht war diese wöchentliche Fahrt auf seinem Fahrrad sein Moment des Glücklichseins, wenn er ganz bei sich und in unserer wunderschönen Natur war? Vielleicht hat er die Fahrt ja bei schönem Wetter verlängert, ist einen Umweg gefahren oder hat eine Rast am Fluss gemacht? Vielleicht war er in diesen Momenten dankbar dafür, gesund und kräftig zu sein – und ganz in Ruhe frische Luft atmen zu können?
Wenn wir uns ab und an wieder etwas zurücknehmen und nicht alles als gegeben erachten, dann können wir vieles wieder neu schätzen lernen: Drehe ich heute den Zündschlüssel in meinem Auto, um mit Leichtigkeit und Genuss über die Bergstrassen zu fahren, dann denke ich an meinen Vater und mache mir bewusst, welchen Luxus ich geniesse.
Ist das selbstverständlich? Mitnichten. Halten wir also einen Augenblick inne und blicken dankbar auf unser Leben – so werden wir auch diese Zeit gemeinsam meistern.
In Gedanken an meinen Vater:
Love you «Vätu» für immer.